Edith Inwinkl

Leben bis zuletzt

Sterben, Tod und Trauer gehören zu den Tabuthemen in unserer Gesellschaft.

Es erscheint paradox, dass wir Menschen, die wir so um Sicherheiten bemüht sind in unserem Leben, mit dem einzig Sicheren, nämlich der Tatsache, dass wir alle sterben werden, so schlecht umzugehen wissen. Ich denke, dass wir das Verhältnis von Tod und Leben neu begründen müssen, um das Leben fördern zu können. Es geht um Achtung und Ehrfurcht vor dem Leben. Das Leben soll als unteilbarer Zusammenhang verstanden werden. Der Mensch hat sich die Todesbedrohtheit bewusst zu machen, um die Verdinglichung des Lebens aufzuheben. In diesem Sinn will die alte Tradition der Kunst des Sterbens – der „ars moriendi“ – verstanden werden, als Kunst, die Sterblichkeit in der Intensität des Lebens zu sehen. Denn der Tod gehört zum Leben, Sterben ist Teil des Lebens. Den Tod zu verdrängen, kostet Lebenskraft. Es ist sinnlos, das Sterben zu verleugnen. Wer dem Tod nicht ins Auge sieht, verdrängt das Leben, weicht den Fragen aus, die das Leben stellt. Sterben ist Lebensvollzug. So ist Sterbebegleitung immer Lebensbegleitung. Sterbende Menschen begleiten bedeutet, mit ihnen auf dem Weg zu sein, dem Ziel unseres Lebens entgegen. Sterbende sind uns dabei nur einen Schritt voraus.

Wenn wir Sterben als Lebensvollzug begreifen, dann ist der Tod tatsächlich die Vollendung des Lebens. Ein „gelebtes Leben“ erhält durch ihn seine „Endgültigkeit“. Der Stunde des Todes wird damit eine für das Ganze des Lebens entscheidende Bedeutung zugesprochen. Denn in der Todesstunde kann es noch einmal zu einer alles bestimmenden Wende kommen für den Sterbenden selbst wie auch für den, der mit ihm ist. Erst hier kommt das gesamte irdische Leben eines Menschen in den Blick, als „erfülltes“ und damit „endgültiges“ und zugleich die Ahnung, dass Sterben Übergang, Transformation, Geburt in ein anderes Leben hinein ist, dass im Tod Auferstehung geschieht. Auferstehung, das ist gar nicht so spektakulär, wie man oft denkt. Das ist nicht dann oder damals. Auferstehung geschieht hier und jetzt.

Der Tod ist nicht das Ende. Er ist kein Unglück für den, der stirbt, sondern für den, der überlebt. Verlusterfahrungen begleiten uns ein Leben lang. Wird uns etwas sehr Wesentliches genommen, werden wir tief erschüttert. Daher ist Trauer als Verlustkummer ein Grundgefühl, das uns sehr vertraut ist. Bei Verlusten wie etwa Trennung, Scheidung, Auflösung einer Beziehung, Verlust der Gesundheit oder der Heimat … bleibt immer noch die Hoffnung, dass sich das Schicksal wieder wenden kann. Beim Tod ist alles anders. Diese Endgültigkeit, dieses „nie wieder“ ist die radikalste Verlusterfahrung, die die Grundfesten unserer Existenz erschüttert und unser Welt- und Selbstverständnis auf den Kopf stellt, uns zur Wandlung zwingt – ob wir wollen oder nicht.

Wenn ein Mensch stirbt, müsste die Erde stehen bleiben und erzittern unter dem Gewicht der Trauer und der Tiefe des Schmerzes. Denn wenn ein Mensch stirbt, stirbt ein Teil der Welt.

Durch den Tod eines geliebten Menschen wird aus dem Wissen um Tod eine Erfahrung von Tod. In gewisser Weise ist es eine Vorwegnahme unseres eigenen Sterbeerlebens. Denn wir sterben in gewisser Weise mit, vieles von uns geht ebenso fort. So erleiden wir als Angehörige auch einen Selbstverlust und finden uns in eine Verflechtung von Sterbeprozess einerseits und Trauerprozess anderseits hineingestellt.

Die Trauer ist ein langer, schmerzlicher und einsamer Weg. Trauern ist seelische Schwerstarbeit, erfordert den ganzen Menschen mit all seiner Kraft und seinem Mut.

Es ist eine Grenzsituation des Lebens, die uns den Blick für das wirklich Wesentliche freimachen, die uns aber auch zerbrechen kann. Trauer ist „lebenswichtig“. Wer sich seiner Trauer nicht stellt, wird ihr erliegen. Trauer ist Ausdruck von Liebe. Unsere Antwort auf den Tod ist die Liebe. Nicht der Tod hat das letzte Wort, das letzte Wort hat immer die Liebe. Die Liebe können wir nicht begraben, Liebe ist stärker als der Tod. Die Liebe bleibt, denn Liebe ist alles. Liebe ist die Energie des Universums, die göttliche, eine Kraft, die alles zusammenhält. Die Liebe ist das einzig Wahre auf dieser Welt. Wir sind aus Liebe gemacht und schwingen mit der Liebe, die uns umgibt. Jeder Mensch auf dieser Erde hat die Möglichkeit, die göttliche Kraft der Liebe zu nutzen. Wenn es uns gelingt, das eigene Leid umzusetzen, und zwar in der Form, dass wir verstehen, Mitgefühl entwickeln und Hilfe geben, scheint dies der Königsweg zu sein, wie aus Trauer Freude und aus Leiden Liebe wird.

Sterbende Menschen und jene Menschen, die ihnen nahe stehen, werden in dieser Lebenssituation mit vielen Grenzerfahrungen konfrontiert. Sie stehen an der Grenze des Lebens, wo es endgültig Abschied nehmen heißt, sind in Not geraten und auch noch an den Rand des Lebens, d.h. des gesellschaftlichen Interesses gedrängt.

Menschen am Rand beizustehen ist daher ein Grundanliegen der Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung durch HOSPICE PALLIATIVE CARE.

„Ich bin im Hospiz, um zu leben“. Dieser Satz eines Hospizpatienten ist wohl die treffendste Formulierung des Hospizgedankens. Es gilt, einen Lebensraum für Sterbende zu schaffen. Kern der Hospizidee ist der umfassende Einsatz für die Würde sterbender Menschen.

Es steht die umfassende Betreuung des Sterbenden und seiner Angehörigen im Mittelpunkt, wo nicht nur der körperliche Schmerz sondern auch die seelische Not in den Blick kommt. Es ist dies eine ganzheitliche Sicht des Menschen in seiner komplexen Schmerzsituation, die auch den psychosozialen und spirituellen Bereich umfasst. Es soll ermöglicht werden, die letzte Lebensphase als eine lebenswerte Zeitspanne zu begreifen. Sterben wird als natürlicher Lebensvorgang gesehen.

Der Ansatz der medizinischen Betreuung beruft sich auf die Grundgedanken der palliativen, lindernden Medizin. Lebensqualität bis zuletzt ist das Ziel der Hospizbegleitung.

„Du zählst, weil du bist, wer du bist. Und du zählst bis zum letzten Moment deines Lebens“.

So formuliert Cicely Saunders, die Begründerin der modernen Hospizbewegung, die anspruchsvolle Haltung. Die zweite große Frau in den Anfängen der Hospizarbeit ist die Ärztin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Mit ihren Büchern, in denen sie die Sterbephasen beschreibt, hat sie eine intensive Beschäftigung der Öffentlichkeit mit den Themen Sterben und Tod ausgelöst.

Wer bin ich? Diese Frage nach der eigenen Identität begleitet uns ein Leben lang und gerade im letzten Lebensabschnitt stellt sie sich noch einmal, vielleicht drängender denn je. In der Rückschau wird Bilanz gezogen und oft geht es in der Sterbebegleitung vor allem um Zuhören, Hinhören, Einfühlen, wenn der Sterbende seine Lebensgeschichte aufarbeitet. Neben dem, was gelungen ist, steht oft Unversöhntes, Bruchstückhaftes, Verfehltes und Unerlöstes. Wobei wir uns zugestehen dürfen, dass menschliches Streben letztendlich immer Stückwerk bleiben wird.

Zeit haben, Ruhe vermitteln, Nähe spürbar machen und ganz einfach nur da sein, nichts tun, die Situation aushalten können, ganz im Hier und Jetzt bleiben, Geborgenheit geben, Wertschätzung, Achtung, Ehrfurcht und Klarheit – dies alles und noch mehr braucht es von unserer Seite als Begleiter – kurz gesagt: ein „offenes und waches“ Herz. Ein altes Wort sagt vielleicht noch viel klarer, was es unbedingt braucht, nämlich Demut. Das ist Respekt und Achtsamkeit für den Begleiteten und das ist Mut für uns Begleiter, die wir uns der Wahl dieses Gegenübers aussetzen und ihn entscheiden lassen, ob und wie er sich begleiten lassen will. Für uns Begleiter werden die Sterbenden zu Lehrmeistern. Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig über uns selbst. So ist Begleitung ein wertvoller Austausch von Mensch zu Mensch in gegenseitiger Solidarität und ein Geschenk für beide. Der Tod kann zum Lehrer des Lebens werden. Er lehrt uns Menschen zu leben, jetzt, heute. Er lehrt uns zu leben, endlich zu leben!

Der Tod beendet ein Leben, nicht eine Beziehung. Der, der geht, bleibt ja auf geheimnisvolle Weise da. Erst den, den ich gehen lasse, kann ich wiederfinden. Es ist eine Gegenwart ganz anders als zuvor, tiefer im Herzen und weniger alltäglich.

ICH BIN NICHT TOT, ICH TAUSCHTE NUR DIE RÄUME.
ICH BIN MIT EUCH UND GEHE DURCH EURE TRÄUME. (Michelangelo)